R. Weber u.a. (Hrsg.): Baden-württembergische Erinnerungsorte

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Titel
Baden-württembergische Erinnerungsorte.


Herausgeber
Weber, Reinhold; Peter, Steinbach; Hans-Georg, Wehling
Erschienen
Stuttgart 2012: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
615 S.
Preis
ISBN
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Josef Inauen, Universität Freiburg i.Ue.

Der grosse, reich bebilderte Band erschien zum 60. Jahrestag der Gründung des Landes Baden-Württemberg am 25. April 1952. Die Herausgeber haben 51 Erinnerungsorte (17 badische, 19 württembergische, einen hohenzollerischen, 14 «länderübergreifende») aus der Zeit von Napoleon bis in die jüngste Vergangenheit ausgewählt und das Spektrum breit ausgesteckt: vom Wappen und den Landeshymnen über die badische Verfassung bis zum Stuttgarter Dreikönigstreffen; von den ersten Fabriken in Lörrach und St. Blasien über die Auswanderung von Ulm aus und die Grenzüberschreitungen auf der Strassburger Rheinbrücke, in Baden-Baden und am Bodensee bis zum Stuttgarter Waisenhaus; von der Erinnerung an den 1921 von Angehörigen einer rechtsextremen Organisation ermordeten Matthias Erzberger über Johann Georg Elser, den Hitlerattentäter von 1939 aus Königsbronn, zu den Erinnerungsorten an Diktatur und Holocaust; von den Zerstörungen am Ende des Zweiten Weltkrieges über Flüchtlinge und Heimatvertriebene bis zum Wiederaufbau; von Karlsruhe als einem Erinnerungsort für Demokratie und Recht über Freiburg, das Herz Vorderösterreichs, Messkirch und Mannheim bis zu Offenburg und Rastatt und deren Rolle 1847 bis 1849; von der Entwicklung von Radio und Fernsehen im deutschen Südwesten über die Architektur bis zum «Weinland» Baden-Württemberg; vom Hohenasperg, dem «Demokratenbuckel», über Stammheim und dessen Bedeutung für die Geschichte der RAF bis zu Wyhl, dem Geburtsort der deutschen Anti-Atombewegung.

Reinhold Weber, Peter Steinbach und Hans-Georg Wehling weisen darauf hin, dass sich niemand allein und nur für sich erinnere, dass Erinnerung vielmehr eine kollektive Gedächtnisleistung sei und Gemeinschaft und Identität schaffe. Das Konzept der Erinnerungsorte (lieux de mémoire) wurde seinerzeit vom französischen Historiker Pierre Nora erarbeitet. Auf ihn zurückgehend sind zahlreiche Bände erschienen, u.a. von Georg Kreis: «Schweizer Erinnerungsorte. Aus dem Speicher der Swissness». Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2010. Das Buch wurde in dieser Zeitschrift besprochen. (SZG, 60 [2010], Nr. 3, S. 382f.) Kreis beschrieb darin Erinnerungsorte, wie das Rütli oder das Bourbaki-Panorama in Luzern, reale und fiktive Personen, wie Wilhelm Tell oder Pestalozzi, die Alpen vom Gotthard über den Bernhardiner bis zum Chalet und die schweizerische Alltagskultur u.a. am Beispiel des Soldatenmessers und des Bankgeheimnisses und setzte sich mit dem Konzept von Pierre Nora kritisch auseinander.

Auch die Herausgeber der baden-württembergischen Erinnerungsorte machen sich Überlegungen zu diesem Konzept. Die Erinnerungsorte definieren sie wie folgt: «Erinnerungsorte sind Gedächtnisorte, sie werden geschaffen und gepflegt, immer wieder bewusst gemacht. So beeinflussen sie Gemeinschaftsgefühl, Heimatbewusstsein, Identität. Im Nachdenken über die Vergangenheit formt sich das Bild, das wir uns von einer in der Vergangenheit gründenden ‘Wirklichkeit’ machen» (S. 18). Gegenüber einer Orientierung an der preussisch-deutschen Geschichte, die man dem Projekt der Deutschen Erinnerungsorte teilweise vorwarf, betonen sie die Vielfalt regionaler Erinnerungen. Das Resultat gibt ihnen Recht. Sie breiten einen äusserst reichen «Erinnerungsspeicher» aus, auch wenn sie sich ganz bewusst auf das 19. und 20. Jahrhundert konzentrieren und auch wenn die zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschaffenen Vorgängerstaaten des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg, das Grossherzogtum Baden, das Königreich Württemberg und die beiden Fürstentümer Hohenzollern-Hechingen und -Sigmaringen, ihrerseits weiter zurückreichende Traditionsbestände aufweisen. Den Herausgebern ist bewusst, dass ihre Auswahl nicht definitiv ist noch sein kann. Sie wehren sich dagegen, den einmal präsentierten Bestand zu dogmatisieren, und betonen, dass die «gegenwärtige Vergangenheit» als das Resultat des kollektiven historischen Gedächtnisses «vor allem in einer pluralistischen Gesellschaft [...] immer umstritten sein und umkämpft bleiben» müsse (S. 18).

Die Herausgeber sind ausgewiesene Fachleute der baden-württembergischen Geschichte und der politisch-historischen Bildung und auch die Autoren sind alles hervorragende Kenner der südwestdeutschen Geschichte, u.a.: Sonja-Maria Bauer (Offenburg und Rastatt), Hans-Peter Becht (Pforzheim), Otto Bräunche (Karlsruhe), Christopher Dowe (Matthias Erzberger), Frank Engehausen (Badische Verfassung), Kurt Hochstuhl (Auswanderung nach Übersee), Wolfgang Hug (Bernau im Schwarzwald), Dieter Langewiesche (Das Stuttgarter Dreikönigstreffen), Bernhard Mann (Die Grabkapelle auf dem Rotenberg: Vom Wirtenberg zu Württemberg), Franz Quarthal (Freiburg), Anton Schindling, der Präsident der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg (Die Strassburger Rheinbrücke), Helga Schnabel-Schüle (Die württembergischen Kirchen konvente), Gerhard Taddey (Hohenlohe). Dass es den Herausgebern gelang, die Universitäten und Archive, die Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg und das Haus der Geschichte in das Projekt einzubeziehen, bürgt für die Qualität des Bandes.

Etwas oberflächlich betrachtet, könnte der eine oder andere Beitrag etwas gar weit hergeholt erscheinen, etwa zur Aus- und Einwanderung oder zum badischen Frauenverein als Erinnerungsort. Doch gelingt es den Autorinnen und Autoren auch hier, den inhaltlichen Bezug treffsicher herzustellen. Interessant wäre gewesen, zu erfahren, wie die Autoren die Gerüchte von einer möglichen Aufteilung Badens auf Württemberg, Bayern und Österreich in den Jahren 1849–1851 oder überhaupt die territorialen Auseinandersetzungen im Vormärz im Rahmen der Landesentwicklung um die Mitte des 19. Jahrhunderts interpretieren.

Für die Schweiz hätte man sich den einen oder anderen Bezug mehr gewünscht, wenn auch auf einiges kurz hingewiesen wird: auf Rottweil als «zugewandter Ort» der Eidgenossenschaft, auf die Abwehrhaltung von Katholisch-Oberschwaben gegen die reformierten Einflüsse aus der Schweiz, auf die Schweiz als föderatives Modell und den Einfluss von Basel und Zürich auf die Industrialisierung im Wiesental. Die Zeiten gemeinsamer Kultur- und Wirtschaftsräume und gemeinsamer politischer Schicksale, u.a. im Thurgau oder im Fricktal, liegen ausserhalb der schwergewichtig betrachteten Jahrhunderte.

Der Band bietet eine exemplarische Ausweitung der Historiografie der Erinnerungsorte auf die Ebene unterhalb der nationalen Stufe und zeigt auf, dass sich Identitäten auch auf föderaler und regionaler Basis bilden können und bilden sollen.

Zitierweise:
Josef Inauen: Rezension zu: Reinhold Weber, Peter Steinbach, Hans-Georg Wehling (Hg.): Baden-württembergische Erinnerungsorte. Stuttgart, Kohlhammer in Verbindung mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 527-529

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 527-529

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